September 2022
Zeitschriften-Umschau (September 2022)
Medienbildung, Medienpädagogik, Medienkompetenz – auf dieser Seite stellen wir Artikel aus aktuellen Fachzeitschriften vor. Viele davon können online gelesen oder heruntergeladen werden.
Medien. Mediensucht. Mediensuchtprävention
merz – Zeitschrift für Medienpädagogik (Ausgabe 4/2022)
Medienpädagogische Fachzeitschrift, hrsg. von Kathrin Demmler, Prof. Dr. Bernd Schorb und JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis; erscheint alle 2 Monate. Die Zeitschrift ist kostenpflichtig.
Das „!“ am Ende der Überschrift des Editorials „Mediensucht – Ein Thema für die Medienpädagogik?!“ deutet es bereits an: Selbstverständlich muss die Frage nach der Mediensucht auch von der Medienpädagogik gestellt und betrachtet werden. Sachlich und immer nahe an wissenschaftlichen Untersuchungen wird zunächst festgehalten, dass Mediensucht sich nicht (allein) an Nutzungszeiten festmachen lässt: Weitere Kriterien müssen hinzugezogen werden. Außerdem mahnen die Autor*innen an, die positiven Aspekte nicht zu vernachlässigen, die die vermehrte Nutzung von Medien gerade bei den Einschränkungen während der Coronazeit gehabt hat.
Felix Reer und Thorsten Quandt informieren in ihrem Artikel „Verstärkte Mediennutzung: Zunahme der Suchtgefahr?“ (S. 11 ff.) zunächst über die von vielen anerkannten, aber auch umstrittenen Definitionen von Mediensucht der Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft (APA) und der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Hier werden Kriterien aufgelistet, die auf eine Mediensucht hinweisen können. Die Autoren Reer und Quandt nennen zudem verschiedene Risikofaktoren (psychosoziale Probleme oder psychische Störungen, z.B. Depression, Angststörungen, geringes Selbstwertgefühl), die bei der Entstehung suchtartiger Nutzungsmuster mitwirken.
In dem Beitrag „Medienpädagogik im Kontext von Mediensuchtprävention“ (S. 21 ff.) stellen Klaus Lutz und Ulrike Wagner fest, dass das Bedürfnis nach einfachen Erklärungen in den durch Corona, Krieg und Klimakrise unsicher gewordenen Zeiten auch im Bereich der Medienerziehung sichtbar wird: Der Begriff „Mediensucht“ sei schneller als sonst zur Hand, die Mediennutzung werde in Schule und Elternhaus oft „beschränkt, verteufelt oder verhindert“. Doch ein souveräner Umgang mit Medien könne nicht durch Medienabstinenz erreicht werden.
Genannt sei zudem noch das interessante Interview von Mareike Schemmerling mit Philipp Benz-Verhülsdonk von der Kölner Drogenhilfe („Wenn Mediennutzung zur Bewältigungs- und Überlebensstrategie wird“, S. 34 ff.). Was ist zuerst da: die psychisch belastende Lebenssituation oder das ausufernde Mediennutzungsverhalten eines/einer Jugendlichen? Was unterscheidet exzessive Mediennutzung von einer stoffgebundenen Sucht? Der Suchtberater bietet Antworten sowie Einblicke in seine tägliche Arbeit. Viele Eltern, so Benz-Verhülsdonk, wünschen sich eine Checkliste, um zu sehen, ob mit dem Nachwuchs noch alles im „normalen“ Bereich liege – doch so einfach gehe es leider nicht.
Gefährdung Jugendlicher durch Online-Pornografie!?
Kinder- und Jugendschutz in Wissenschaft und Praxis (Ausgabe 3/2022)
Fachzeitschrift zum Kinder- und Jugendschutz, herausgegeben von der Bundesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz (BAJ). Sie erscheint vierteljährlich und ist kostenpflichtig.
Die Fachzeitschrift geht auf ein weiteres wichtiges Thema der Medienerziehung ein: die Online-Pornografie. Wir stellen die vier Artikel zu dem Hauptthema der Zeitschrift kurz vor.
Der einleitende Artikel „Sex, Jugend und Pornografie: Wie soll man pädagogisch damit umgehen?“ (S. 94 ff.) von Nicola Döring liefert zunächst einen allgemeinen Überblick zur Thematik: Zahlen zur Nutzung von Online-Pornografie (Einstiegsalter, Häufigkeit, Geschlechterdifferenzen und mehr). Die Autorin geht kurz auf die sexuelle Skripttheorie ein, nach der Jugendliche vor Jahrzehnten durch keine oder nur sehr sporadische Sexualaufklärung in diesen Themen eher underscriptet, heute durch die Medien eher overscriptet seien – und das ändere die Herausforderungen für Pädagog*innen und Erziehende deutlich. Thematisiert werden zudem das nach Meinung von Döring kaum tragbare finstere Bild von den Wirkungen des Pornografiekonsums sowie die Möglichkeiten eines sinnvollen Umgangs mit dem Konsum durch Jugendliche.
Immer jüngere Kinder besitzen bereits ein Smartphone – und haben damit fast unbegrenzten Zugang zu allen möglichen Internet-Inhalten. Da es im Bereich der Pornografie noch immer keine wirksamen Zugangsbeschränkungen gibt, können sich selbst Kinder kinderleicht Zugriff auf solche Inhalte verschaffen. Und das widerspricht eigentlich dem Jugendmedienschutz-Staatsvertrag (JMStV). Darauf verweist Daniel Hajoks Artikel „Verfrühte Zugänge zu Pornografie – und die Grenzen des Kinder- und Jugendmedienschutzes“ (S. 100 ff.), der dann wie Döring (s.o.) einige statistische Daten zur Pornografie-Nutzung liefert, bevor er auf Wirkungstheorien eingeht. Auch Hajok konstatiert, dass „eine grundsätzlich verändernde Wirkung auf vorhandene Einstellungen, Meinungen und Verhaltensdispositionen“ und eine per se schädliche Wirkung auf Jugendliche kaum nachzuweisen sei. Dies bedeute jedoch nicht, dass der Kinder- und Jugendschutz in diesem Bereich aufgegeben werden sollte.
Um Online-Pornografiesucht geht es in einem Interview der Zeitschrift („Pornosüchtig?! Problematischen Umgang mit Online-Pornografie erkennen und verändern“) mit Gordon Emons, Leiter einer Berliner Beratungsstelle für verschiedene Süchte. Emons beschreibt die drei Phasen vom ersten Anschauen eines pornografischen Videos bis hin zu einem problematischen Konsum mit den Begriffen „Genussphase“, „Eskalationsphase“ und „Kontrollverlustphase“ und berichtet von den Erfahrungen der Betroffenen – und bedauert, dass es noch nicht genügend wissenschaftliche Erkenntnisse zum weiteren Verlauf dieser Phasen gebe.
Auch Anja Franke gibt in „Zwischen Dramatisierung und Bagatellisierung. Auf dem Weg zu Pornografiekompetenz: Jugendsexualität und Pornografie“ (S. 110 ff.) zu bedenken, dass es noch großen Forschungsbedarf gebe. Es gebe keine belastbaren Erkenntnisse dazu, „welchen langfristigen Einfluss Pornografie auf die psychosexuelle Entwicklung von Jugendlichen hat“. Und wie schon die Autor*innen zuvor betont sie die Wichtigkeit, auch über dieses für viele Eltern schambehaftete Thema mit dem jugendlichen Nachwuchs zu reden. Und eigentlich geht es hierbei um Medienkompetenzvermittlung: Jugendliche sollten lernen können, eigenständig Chancen und Risiken der Pornografie-Nutzung zu erkennen.
ZuschauMotive. Imaginäre Beziehungen zu Medienfiguren
mediendiskurs (Ausgabe 101, 3/2022), früher „tv diskurs“
Die Fachzeitschrift wird herausgegeben von der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF) und informiert über Entwicklungen beim Jugendmedienschutz, in der Medienpolitik und ‑pädagogik sowie verwandten Forschungsdisziplinen; erscheint vierteljährlich. Alle Artikel sind online frei zugänglich.
Es geht im Titelthema der aktuellen „mediendiskurs“ um die Beziehungen, die Fernsehzuschauer*innen, Instagram- oder YouTube-Nutzer*innen oder Gamer*innen zu den Protagonist*innen ihres Mediums aufbauen.
Dr. Lothar Mikos macht in seinem Artikel dieses Phänomen am Begriff der parasozialen Interaktion fest („Parasoziale Interaktion mit Seriencharakteren“, S. 14 ff.). Die Zuschauenden lernen die Hauptperson einer Serie im Laufe der Zeit immer besser kennen, wissen um ihre Schwächen, leiden mit, wenn es ihr schlecht geht, freuen sich über gelungene Taten usw. Durch Social Media können diese Bindungen noch verstärkt werden, wenn über das Verhalten eines Stars diskutiert wird – oder sogar mit dem Star, der in seiner Serienrolle auftritt. Alles ist und bleibt eine scheinbare Interaktion, eine Illusion. Praktisch: In einer Übersicht der Redaktion werden die „Konzepte der parasozialen Interaktion (PSI) und parasozialen Beziehung (PSB)“ (S. 30 f.) noch einmal erklärt.
Dr. Marlis Prinzing macht dieses Phänomen an Medienberichten zu Personen aus dem Krieg in der Ukraine fest („Wir im Ukrainekrieg. Parasoziale Beziehungen zu Augenzeugen, Selenskyj & Co.“, S. 24 ff.). Die parasoziale Interaktion mit dem ukrainischen Präsidenten, einer ukrainischen Fotografin gibt den Fernsehzuschauer*innen das Gefühl, dabei zu sein, sie fühlen sich persönlich angesprochen, verstärkt durch die Teilnahme über Social Media (Chats, Twitter, Facebook). In Kriegssituationen stärkt dies das Gemeinschaftsgefühl, die Unterstützung für das überfallene Land.
„Wie sozial sind eigentlich parasoziale Beziehungen? Und was ist echt?“, fragt Uwe Breitenborn in seinem Artikel „Echt jetzt? Die virtuelle Konstruktion der Wirklichkeit“ (S. 32 ff.) – und zeigt dies an der Beziehung zwischen der Influencerin Bianca Claßen (bekannt durch ihren YouTube-Kanal BibisBeautyPalace) und ihren Follower*innen und Fans auf. Verbunden wird dies mit dem Theoriemodell der konstruierten Wirklichkeit von Peter L. Berger und Thomas Luckmann.
Christoph Klimmt und Daniel Possler („Parasoziale Beziehungen in Videospielen“, S. 38 ff.) schauen sich unter diesen Aspekten das Verhältnis von Gamer*innen zu Avataren an, das „von rein funktionaler Interaktion über intensive parasoziale Bindungen bis zum Erleben einer „Verschmelzung“ mit dem Avatar (Identifikation)“ reicht.
Podcast-Perspektiven und Ergebnisse der SIM-Studie 2021
Media Perspektiven Heft 7-8 (2022)
Die Fachzeitschrift erscheint monatlich und ist kostenfrei online zu lesen. Herausgeber ist der Intendant des Hessischen Rundfunks, die Zeitschrift gehört zur ARD-MEDIA GmbH. Medienwissenschaftliche und medienpolitische Themen werden besprochen, Analysen zur Entwicklung der Massenmedien und Studien geliefert.
Podcasts gibt es seit ca. 20 Jahren, doch in der Breite der Bevölkerung durchgesetzt haben sie sich erst in den letzten Jahren: Mittlerweile nutzen 34 Prozent zumindest gelegentlich Podcasts. Der Artikel „Podcast-Perspektiven – vom Hype zum nachhaltigen Trend. Entwicklung von Nutzungsverhalten und Werbemöglichkeiten“ (S. 356 ff.) von Bernard Domenichini liefert Zahlen und Fakten zur Podcast-Nutzung: Wer sind die Hörer*innen? Warum nutzen sie Podcasts? Welche Inhalte sind besonders beliebt? Und: Welche Werbewirksamkeit haben Podcasts?
Wer sich mit Medienbildung und Medienpädagogik auseinandersetzt, kennt sie: die JIM- und die KIM-Studien des Medienpädagogischen Forschungsverbunds Südwest – einer Kooperation der Landesmedienanstalten von Baden-Württemberg (LFK) und der Medienanstalt Rheinland-Pfalz. Nun wurde mit der SIM-Studie erstmals von dem Verbund auch das Mediennutzungsverhalten der ältesten Personen in unserer Gesellschaft untersucht. Thomas Rathgeb, Michael Doh, Florian Tremmel, Mario Jokisch und Ann-Kathrin Groß fassen in ihrem Beitrag „Medienumgang von Menschen ab 60 Jahren. Ergebnisse der SIM-Studie 2021“ (S. 389 ff.) die Resultate der Befragungen zusammen.
Fake News: Verirrungen und Verführungen
Pädagogische Rundschau (Ausgabe 3/2022)
Unabhängige Fachzeitschrift, die mit Forschungsbeiträgen, Berichten und Diskussionen disziplin- und methodenübergreifend den aktuellen Stand der Pädagogik darstellen und den Wissenschaftstransfer und Wissensaustausch fördern möchte.
Der Artikel „Fake News: Verirrungen und Verführungen“ (S. 325 ff.) von Jos Schnurer gehört nicht zu den üblichen Artikeln über Fake News. Der Autor geht das Thema umfassend an, bringt Philosophen, Soziologen und Psychologen mit in die Diskussion, um das Phänomen Lüge, den Bezug von Fake News zu Werten und Tugenden zu erklären.
Nur kurz erwähnt Schnurer die Krise der Corona-Pandemie – es geht ihm um Grundsätzlicheres, um eine tiefergehende Analyse von Fake News und ihren Folgen für unsere Gesellschaften. Und das Fazit ist daher auch nicht der Ruf nach Medien-, Informations-, Nachrichtenkompetenz, sondern: „Das wichtigste ist, die Menschen davon zu überzeugen, dass sie gebildet und aufgeklärt sein wollen. Die Familie, die Kita, Schule und Erwachsenenbildung sind aufgefordert, das humane Selbstdenken zu lehren und zu lernen!“ Nicht immer einfach zu lesen, aber lohnend.
Schulentwicklungsprozesse für Bildung in der digitalen Welt
MedienPädagogik (Themenheft Nr. 49, 2022)
Open-Access-Zeitschrift mit wissenschaftlichem Anspruch und ausgebauten peer-review-Prozessen. Zielpublikum sind Fachpersonen aus Wissenschaft und Praxis, die sich mit Fragen der Vermittlung zwischen Menschen und Medien in pädagogischen Kontexten beschäftigen (Medienpädagogik).
„Schulentwicklungsprozesse für Bildung in der digitalen Welt“ – gerade vor dem Hintergrund der (wohl noch nicht überwundenen) Krise der Corona-Pandemie werden Fragen nach den Folgen für die Schulen gestellt: Der Artikel „Pandemieinduzierte Entwicklungsprozesse auf der Ebene der Einzelschule“ (Grit im Brahm, Christian Reintjes, S. 1 ff.) beschreibt die Ergebnisse einer bundesweiten Online-Befragung von Schulleitungen zur Organisation von Schule und Unterricht in den Zeiten der Lockdowns (März und Dezember 2020) – und welche Folgen sich für die Digitalisierung der Schule ergaben.
Wenige Monate nach einem durch die Corona-Pandemie bedingten Lockdown wurden aus Gruppendiskussionen Positionen zum Umgang mit digitalen Medien herauskristallisiert. Der Lockdown hatte die Erwartungshaltung, dass Schule digitale Medien im Unterricht einsetzen sollten, bereits verstärkt und der Beitrag „Zwischen Ablehnung und Befürwortung. Schulische Positionierungen zur Nutzung digitaler Medien vor dem Hintergrund des Corona-Lockdowns“ (Enikö Zala-Mezö, Johanna Egli, Julia Häbig, S. 48 ff.) fragt nach dem Umgang der Schulen mit dieser verstärkten Erwartung und der Positionierung der untersuchten Gruppen.
Für den Artikel „‘Also, das wäre sehr hilfreich, (…)“ (Esther Herfurth, Karim Fereidooni, S. 94 ff.) wurden schulische Medienberatende in NRW zum Digitalisierungsprozess in Schulen befragt. Ergebnis u.a.: Deutschland stehe diesbezüglich noch vor großen Herausforderungen, technisch wegen einer oftmals nicht angemessenen IT-Infrastruktur an Schulen, inhaltlich-didaktisch wegen unzureichender Thematisierung in der Aus- und Fortbildung von Lehrkräften.