Nora Frerichmann; Foto: Yakob El Deeb

GRIMME ONLINE AWARD 2023


Wie medienkritische Öffentlichkeiten sich verändern

Ist das Medienkritik, oder kann das weg?

Nora Frerichmann

Es mag so wirken, als ginge es der Medienkritik in Deutschland wie den schmelzenden Polkappen: Den einen macht die Klimaerwärmung zu schaffen, der anderen Umstrukturierungen in Medienhäusern, wegbrechende Einnahmen und Leser*innen. Fundierte und differenzierte Auseinandersetzung mit Medienberichterstattung, -politik und -unternehmen ist häufig nicht unbedingt ein Klickmagnet – außer es geht um Themen wie den Rundfunkbeitrag, Trash-TV-Eskapaden oder dreiste Lügen der Klatschpresse.

Dabei ist kritische Medienbeobachtung in unserer Medien-Gesellschaft, in der man selbst vom stillen Örtchen aus via Smartphone mit der ganzen Welt verbunden ist, wohl so wichtig wie nie. Zu erklären, wie einzelne Bereiche des Mediensystems funktionieren, wie Digitalisierung sich darauf auswirkt, über gezielt platzierte „Fake News“ aufzuklären und Möglichkeiten für eigene Prüfung an die Hand zu geben, aber auch Fehlern oder blinden Flecken in journalistischer Berichterstattung nachzugehen, stärkt die Demokratie.

Während die Eiskappen an den Polen und Gletschern weltweit unwiederbringlich verschwinden, schmilzt die Medienkritik hingegen nicht komplett dahin. Sie steckt in einem tiefgreifenden Veränderungsprozess weg von festgelegten Formaten, Fachpublikum und institutionalisierten Anbietern mitten hinein in all die Sphären der sich immer weiter fragmentierenden Öffentlichkeit.

Während die meisten überregionalen Zeitungen in den 80er und 90er Jahren teils mehrere Medienseiten hatten, sind in den vergangenen 20 Jahren immer wieder renommierte Angebote wie etwa die Medienkorrespondenz oder kürzlich die Medienseite im Tagesspiegel in gewohnter Form eingestellt worden. Medienkritische Berichterstattung findet von diesen Anbietern noch statt, aber nicht mehr in der bisherigen Regelmäßigkeit und auch nicht mehr so gebündelt wie zuvor.

Gleichzeitig wurden nach und nach neue Portale gegründet, die den Journalismus und die Medienbranche unabhängig von größeren Medienhäusern beobachten, etwa das Onlinemagazin „Übermedien“, das „BILDblog“ oder „DWDL.de“. Neben den verschiedenen Medienmagazinen der öffentlich-rechtlichen Rundfunksender ist die Medienkritik auch in Podcasts angekommen, wo die Ereignisse in der deutschen Medienlandschaft in Formaten wie „quoted“, „Läuft“, „OMR Media“ oder „Druckausgleich“ in den Blick genommen und kritisch besprochen werden. Viele solcher neueren Formate sind auf Initiative selbstständig arbeitender Journalist*innen entstanden.

Und auch abseits von redaktionellen Angeboten tun sich Räume im Netz auf, in denen sich jede*r via Mastodon, Twitter & Co. medienkritisch äußern und von einer breiten Masse gehört werden kann. Die Medienkritik hat sich deutlich verbreitert und egalisiert. Das birgt Chancen, aber auch Risiken.

Einerseits ist diese Entwicklung eine tolle Sache, weil die Hürden für medienkritische Inhalte deutlich niedriger geworden sind. Menschen verschiedenster Herkunft, sozialer Hintergründe, unterschiedlichen Alters, gesundheitlicher Voraussetzungen, sexueller Orientierung, etc. können etwa via Social Media Kritik einbringen. So werden immer wieder Aspekte aufgegriffen, die klassische Medienressorts oft gar nicht im Blick haben. Zeitungen, Fachmagazine, TV- und Radioredaktionen sind keine alleinigen Gatekeeper mehr – und Medienkritik wird um viele wertvolle Perspektiven erweitert.

Andererseits eröffnet diese Entwicklung aber auch Möglichkeiten für mehr Pauschalisierungen, fehlende Differenzierung in der Auseinandersetzung mit Medien und Berichterstattung. Um Entwicklungen umfassend einordnen und erklären zu können, ist nach wie vor Expert*innenwissen über das komplizierte deutsche Mediensystem mit all seinen zunächst unsexy wirkenden Details wie Kontrollinstanzen, Regulierungsbehörden, medienpolitischen Voraussetzungen und Schwachstellen nötig. Das Wissen über handwerkliche, rechtliche und berufsethische Regeln des Journalismus ermöglicht erst eine umfassende Einordnung von Berichterstattung, Verfehlungen und Unausgewogenheiten.

Denn ernstgemeinte Medienkritik, die Probleme faktenbasiert benennt, und Medienbashing sind zwei völlig verschiedene Paar Schuhe. So haben sich in den vergangenen Jahren auch einige sogenannte alternative Medien meist im Netz entwickelt, die vorgeblich den „Mainstream-Medien“ auf die Finger schauen. Statt konstruktiver Medienkritik, die konkrete Probleme und Zusammenhänge reflektiert, werden dort allerdings diverse Verschwörungserzählungen in die „Kritik“ eingebettet und populistische Pauschalisierungen verbreitet.

Dabei gibt es auch in der klassischen Medienkritik sicher einige Leerstellen: Wenn es um Trends auf Social-Media-Plattformen oder um kritikwürdige Äußerungen von Influencer*innen oder fragwürdige Marketingaktionen geht, fühlen die klassischen Player sich oft nicht zuständig oder steigen sehr spät in die Berichterstattung ein.

Bei allen Veränderungen bleibt letztendlich eins festzuhalten: Medienkritik wird auf allen Ebenen wichtiger. Mit der Medialisierung vieler Lebensaspekte bekommt die grundlegende Fähigkeit, Medieninhalte einschätzen und einordnen zu können, für alle mehr Bedeutung. Das haben wir nicht zuletzt gemerkt, als während der Hochphase der Corona-Pandemie jede Menge Falschbehauptungen und irreführende Posts die Social-Media-Plattformen fluteten, was sich aktuell im Zusammenhang mit dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine wiederholt. Aber auch angesichts zunehmender Medienkonzentration und digitaler Umwälzungen im Bereich klassischer Medien ist ein kritisch-versierter Umgang mit Medien wichtig.

Medieninhalte einzuordnen, Fakten zu prüfen und Quellen beurteilen zu können, wird immer bedeutender – nicht nur für jede*n persönlich, sondern auch für eine funktionierende Gesellschaft und Demokratie. Durch Entwicklungen im Bereich KI, Stichwort ChatGPT, wird ein souveräner Umgang mit Medieninhalten und Quellen ohnehin nochmal einen ganz anderen Stellenwert bekommen.

Über die Autorin:

Nora Frerichmann ist Nachrichten- und Medienjournalistin in Köln. Sie arbeitet als Redakteurin bei der Nachrichtenagentur epd sowie als freie Autorin, Kritikerin und Jurorin.

Foto oben: Yakob El Deeb

Dieser Artikel ist entstanden für die Publikation zum Grimme Online Award 2023. Sie finden die gesamte Broschüre zum Download auf den Seiten des Preises:

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