Erinnerung und Emotion
Ein paar Gedanken zur Wahrnehmung von Bildern
(Dieser Artikel ist Teil des Schwerpunkts „Zwischen echt und gefaket – Kriegsbilder in unserer Wahrnehmung“!)
Wo waren Sie, als es passierte? Mit wem haben Sie damals als erstes darüber gesprochen? Was haben Sie in dieser Situation gedacht? Wer alt genug war, die Tragweite des Anschlags auf das World Trade Center und das Pentagon am 11. September 2001 zu erkennen, kann diese Fragen meist recht detailliert beantworten. Im Gedächtnis haften blieb meist nicht nur das Ereignis an sich, das innerhalb von wenigen Minuten die Medien beherrschte, sondern auch der individuelle Aufenthaltsort, die Tätigkeit, die man gerade ausgeübt hat, die ersten Gedanken und Gespräche.
In der psychologischen Fachliteratur wird dafür oft der Begriff „Flashbulb memories“ verwendet, deutsch „Blitzlichterinnerungen: „(…) detailgenaue lebhafte Erinnerungen an Weltereignisse (…), also Erinnerungen an dramatische Geschehnisse, die emotional bewegt haben. Erinnert werden langfristig sehr viele Umstände und Details von persönlichen dramatischen Ereignissen, die eine Person mit dem Ereignis verbindet.“[1]
Dem Visuellen kommt hierbei eine große Bedeutung zu: Fotos und Videos von dem Anschlag rufen immer wieder unsere Emotionen und Erinnerungen hoch, die wir gehabt haben – oder glauben, gehabt zu haben, denn teilweise werden die Erinnerungen im Nachhinein auch emotional überladen.[2] Spannend, aber spekulativ ist die Überlegung, welche Bilder des gegenwärtigen Krieges solche Wirkungen haben werden: Ist es das Bild der schwangeren Frau, die in Mariupol auf einer Bahre aus einer zerbombten Entbindungsstation getragen wird, umgeben von zerstörten Häusern? Oder die Fotografie der Pulitzer-Preisträgerin Lynsey Addario, die eine tote Familie auf einer Straße in der ukrainischen Stadt Irpin zeigt? Oder sind es die Bilder der beiden sich völlig unterschiedlich präsentierenden Präsidenten Putin und Selenskyj?
Das Thema „Flashbulb memories“ zeigt bereits: Wenn wir uns ein Bild oder ein Video anschauen, ist das nicht nur ein mechanischer Vorgang, eine 1:1-Abbildung der Szene auf der Netzhaut unserer Augen. Unser Gehirn ordnet eine Szene immer in einen gewissen Rahmen ein, der individuelle und gesellschaftliche Seiten hat: Im Prinzip sieht jeder Mensch ein Bild anders – weil jeder mit einer individuellen Sozialisation, eigenem Vorwissen und auch mit einer gewissen, teilweise vielleicht nur momentanen Emotionalität darauf schaut. Weil es aber Ähnlichkeiten der Sozialisation in einer Gesellschaft gibt, zeigen sich auch Ähnlichkeiten bei der Wahrnehmung, also bei dem, was die Mehrheit der Gesellschaft sieht und für die Realität hält. Menschen vor 100 Jahren hätten ein modernes Foto anders „gesehen“ – also wahrgenommen inklusive Einordnung und Interpretation – als Menschen unserer an Bildern so reichen Gegenwart. Personen aus einem anderen Kulturkreis, egal ob „anders“ zeitlich oder räumlich gemeint ist, sehen auf und in einem Bild (womöglich grundlegend) anderes.
Die Möglichkeit, dass Fotografien und Videos in unserer digitalen Gesellschaft für alle Menschen „sichtbarer“ geworden sind, aber auch, dass jede*r eigenes Bildmaterial erstellen und veröffentlichen kann, führt laut dem Psychologen Martin Schuster dazu, dass die Menschen „etwas ‚gleicher‘“ werden: Die individuelle Interpretation von Bildern nehme ab, „das kollektive Bildbewusstsein“ zu.[3] Ein Nachteil dieser Entwicklung: Auch manipulierte, verfälschte Bilder und Videos (Deep Fakes) bzw. die bewusste Einbettung von Bildmaterial in falsche Zusammenhänge nehmen zu – und damit einhergehend auch das generelle Misstrauen in Bildmaterialien sowie die Forderungen nach mehr Medien- und Informationskompetenzvermittlung.
Aufbauend auf diesen Informationen soll nachfolgend die derzeitige Bilderflut zum Ukraine-Krieg anhand von Presseartikeln nachverfolgt und kommentiert werden.
Dieser Artikel ist Teil des Schwerpunkts „Zwischen echt und gefaket – Kriegsbilder in unserer Wahrnehmung“!
Verweise
[1] Werner Stangl: Flashbulb memories. In: Ders.: Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik. https://lexikon.stangl.eu/498/flashbulb-memories (abgerufen am 31.03.2022). Siehe auch: Martin Schuster (Fotopsychologie. Fotos sehen, verstehen, gestalten. 3. Auflage. Berlin 2020, S. 62), der zudem einen Begriff mit ähnlicher Bedeutung erwähnt: „Now-print-Mechanismus“.
[2] Schuster (2020, s. o.), S. 63.
[3] Schuster (2020, s. o.), S. 181.