Juni 2023
Medienkritik – von der Buchrezension bis zur Lügenpresse
Am 15. Juni 2023 wurde in Köln der Grimme Online Award verliehen, der Preis für publizistische Qualität im Netz. Es war die 22. Verleihung des Awards – und zum 22. Mal erschien auch eine Publikation zum Preis. In diesem Jahr hatte die „grimme“-Broschüre den Themenschwerpunkt „Medienkritik“. Der Medienbildungshub nimmt das zum Anlass für eine kleine Einführung, was Medienkritik eigentlich ist, und bildet einige Artikel der Preis-Publikation ab.
Was ist Medienkritik?
Von „Lügenpresse!“ bis zu einer 10.000 Zeichen langen Lobeshymne auf einen neuen Roman in der Wochenzeitung „Die Zeit“ – die Vielfalt dessen, was als Medienkritik verstanden werden kann, ist groß. Das liegt auch an dem Begriff selbst: Was Kritik ist, ist nur schwer zu definieren. Ähnliches gilt für den Begriff Medien. Und beide zusammen machen das Ganze nicht einfacher. Im Folgenden nähert sich der Medienbildungshub der „Medienkritik“ vornehmlich mittels der Kategorisierung von Hans-Dieter Kübler in seinem Artikel „Prämissen und Paradigmen von Medienkritik – Versuch einer Kategorisierung“.[1]
„Das ist ein Buch, das total wertlos und langweilig ist, von der ersten bis zur letzten Zeile!“, ereiferte sich Marcel Reich-Ranicki im Literarischen Quartett (Folge 38) über den im Jahre 1995 erschienenen Roman „Ein weites Feld“ von Günter Grass.[2] Die Fernsehsendung des ZDF – sie lief (zunächst noch koproduziert vom ORF) von 1988–2001, in den Jahren 2005 und 2006 sowie seit 2015 – beschäftigte sich immer wieder auch mit der deutschen Literaturkritik allgemein, insbesondere mit den Besprechungen der Feuilletons, der Kulturteile, der Medienseiten der Zeitungen. Dort wurden über viele Jahre hinweg natürlich nicht nur Bücher verhandelt, sondern auch Theaterstücke, Fernseh- und Kinofilme mal ausführlich, mal in kurzen Abschnitten (positiv oder negativ) kritisiert. Teilweise fließen subjektive Einschätzungen mit ein, auch wenn der Roman oder der Spielfilm bestimmte Kriterien (Logik, Dramaturgie, eine bestimmte oder neuartige Kameraführung u.ä.) erfüllt, die die Bewertung objektivieren mögen. Das ist, laut Kübler, „Medienkritik als Produkt- bzw. Werkkritik“[3].
In Fortführung dessen, aber in einem größeren Zusammenhang versteht sich die „Medienkritik als Genre- und Programmkritik“[4]. In der genannten Folge des Literarischen Quartetts wird der Rahmen weiter gesteckt: Günter Grass‘ Roman, der den Mauerfall und die Wiedervereinigung thematisiert, wird mit seinem sonstigen literarischen Schaffen sowie mit anderen Büchern über diese zeitgeschichtlichen Ereignisse verglichen. Neben solchen Einordnungen kann Medienkritik z.B. auch Genrebesprechungen von Games und Kinofilmen, ein Vergleich der Nachrichtensendungen oder eine kritische Betrachtung einzelner Programmtendenzen des Fernsehens sein.
Die Digitalisierung hat deutliche Spuren beim Journalismus hinterlassen, auch bezüglich der Medienkritik. Zeitungsverlage und Fernsehsender sahen sich mit der Konkurrenz Internet konfrontiert: Nachrichten lesen, sich über Kultur- und Sportereignisse informieren – all das geht seit vielen Jahren nicht mehr nur über kostenpflichtige Zeitungen und Zeitschriften, sondern auch über kostenfreie (allerdings oftmals durch Werbung oder Preisgabe persönlicher Daten finanzierte) Internetseiten, Newsletter und Social Media. Das hat(te) Folgen, z.B. wurden vielfach die Medienseiten der Zeitungen, auf denen ausführliche Produkt- und Werkkritiken zu lesen waren, eingestellt. Von einer „Krise des Journalismus“ ist schon lange die Rede. Der Politikwissenschaftler, Journalist und Fernsehmoderator Armin Wolf unterteilt sie in eine ökonomische, eine politische (die Einschränkung der Pressefreiheit in einer zunehmenden Anzahl von Ländern auch in Europa) sowie in eine essenzielle Krise.[5] Letztgenannte meint kurz die Frage: „Unser Geschäft ist es, Fakten zu recherchieren. Aber wenn die Fakten keine Rolle mehr spielen, was ist dann unsere Rolle?“ und der Autor liefert Antworten, u.a.: „Ich glaube deshalb, dass wir Social Media nicht den Propagandisten, Fake-News-Produzenten und Troll-Fabriken überlassen dürfen.“[6] Das ist „Medienkritik als Journalismuskritik“[7]: Der Journalismus selbst gerät selbst ins Blickfeld der Kritik – interessanterweise durch Journalist*innen selbst, aber auch „von dem Journalismus nahestehenden Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen sowie von Kulturkritikern und Kulturkritikerinnen“.[8]
Kritik üben zudem die Medienschaffenden und das Publikum, oftmals gerichtet an die jeweils andere Seite: Die Produzenten pauschalisieren z.T. das Konsumverhalten des Fernsehpublikums, die Zuschauer*innen haben z.T. ein mit Vorurteilen belastetes Bild von den Medienschaffenden („Medienkritik als Funktions- und Rollenkritik“[9]). Auch die Institutionen (z.B. die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten oder die privaten Sender), die hinter vielen Medienschaffenden stehen, müssen sich kritischen Einschätzungen stellen, also den Diskussionen um ihre rechtlichen Grundlagen und ihre wirtschaftliche Abhängigkeit von Unternehmen und deren Werbeetats. Diese Medienkritik bezeichnet Kübler als „Struktur- und/oder Systemkritik“[10].
Letztendlich sei noch die „Medienkritik als Gesellschaftskritik“[11] genannt, also Medien als Spiegelbilder gesellschaftlicher Prozesse. Das können kapitalismuskritische Beurteilungen von Medien sein, aber auch, auf populistischer Ebene, die Bezeichnung aller herkömmlichen Medien als Systemmedien oder Mainstreammedien.
Natürlich gibt es noch eine Reihe weiterer Erklärungen des Begriffs Medienkritik bzw. Klassifizierungen der einzelnen Spielarten. Genannt sei noch kurz ein gerade für die Medienbildung interessanter Ansatz: die Medienkritik in medienpädagogischen Kontexten. Ein interessantes Modell hierzu entwickelte die deutsche Erziehungswissenschaftlerin und Professorin für Medienkompetenz- und Aneignungsforschung an der Universität Leipzig, Sonja Ganguin. Sie sieht die Medienkritik als eine Ansammlung verschiedener Fähigkeiten oder Kompetenzen:
- Wahrnehmung (als Voraussetzung, z.B. Strukturen von Medien zu erkennen),
- Decodierung (Codes und Symbolik verstehen)
- Analyse (Genres und Formate klassifizieren)
- Reflexion (z.B. über einen Wechsel der Perspektive zu weiteren Gesichtspunkten zu kommen)
- Beurteilung (von Medienangeboten über objektive und subjektive Kriterien).[12]
Medienkritik und der Grimme Online Award
Mit dem Grimme Online Award werden seit dem Jahr 2001 vom Grimme-Institut qualitativ hochwertige Online-Angebote ausgezeichnet. Die Preispublikation „grimme“ widmet sich – neben der ausführlichen Vorstellung der Preisträger und Nominierten – umfassend einem Schwerpunktthema. Das 2023er Heft, für das die Grimme Medienbildung redaktionell verantwortlich zeichnet, blickt multiperspektivisch auf den Stand der Medienkritik. Einige Artikel möchten wir Ihnen an dieser Stelle bereitstellen, das vollständige Heft zum kostenlosen Download finden Sie hier:
Meldung und Download: Grimme Online Award 2023 (Publikation)
Nora Frerichmann: „Ist das Medienkritik, oder kann das weg? Wie medienkritische Öffentlichkeiten sich verändern“
Nora Frerichmann, Nachrichten- und Medienjournalistin sowie Redakteurin bei der Nachrichtenagentur epd, hält die Medienkritik in Zeiten von Digitalisierung, „Always on“ und Fake News für wichtiger denn je – allerdings stecke diese in einem tiefgreifenden Veränderungsprozess. Festgelegte Formate – gemeint sind die Medienseiten der Zeitungen mit ihren Produkt- bzw. Werkkritiken, aber auch übergreifenden Artikeln zu Medienentwicklungen – sind seltener geworden, doch haben sich neue Verbreitungswege etabliert: Portale, Medienmagazine, Podcasts und auch Social-Media-Kanäle.
Martin Niewendick: Die neuen digitalen Citoyens. Zum verschobenen Verhältnis von Medien und ihren Nutzer*innen auf Social Media
Der freie Journalist Martin Niewendick geht näher auf den Wandel im Verhältnis zwischen den Medien und ihren Nutzer*innen ein: Die Nutzer*innen sind eben nicht mehr reine Konsument*innen, sondern selbst „kleine Sender“, die über Social Media ihre Kritik äußern, aber auch mal unreflektiert lospoltern oder (gewollt oder nicht) einen Shitstorm entfachen. Was bedeutet das für die Redaktionen? Wie können sie mit dieser Art der Medienkritik umgehen?
Boris Rosenkranz: Medien besser kritisieren. Weshalb „Übermedien“ unverzichtbar ist
Boris Rosenkranz ist Journalist und, zusammen mit Stefan Niggemeier, Gründer des Internet-Medienmagazins „Übermedien“. Er stellt sein Portal kurz vor und geht anschließend auf die Gründe ein, weshalb es solche Medien braucht: Es müsse jemanden geben, der die Arbeit der Journalist*innen kontrolliert und das sollten möglichst (andere) Journalist*innen machen – Medienkritik als Journalismuskritik!
Christian Bartels: Von allem zu viel? Orientierungssuche im Internet der 2020er Jahre
Der Medienjournalist Christian Bartels (u.a. tätig für die Online-Medienkolumne „Altpapier“ des MDR) liefert einen kleinen Rundumschlag zur Entwicklung neuer Formate und ihrer Beliebtheit, die schon morgen wieder verloren sein kann. Es geht um Instagram-Bilder und -Videos, um Äußerungen in Talk-Shows, die möglichst so prägnant oder provokativ sein sollten, dass sie über Social Media gute Verbreitung finden, um täglich tausende neue YouTube-Videos. Wem das alles zu viel wird, der findet ein wenig Orientierung beim Grimme Online Award. (Dort werden im übrigen Werke wie Websites, Podcasts oder Apps ausgezeichnet – ganz im Sinne der Produkt- bzw. Werkkritik.)
Thomas Lückerath: Die Demokratisierung der Medienkritik. Wie das Internet Kritik diverser machte
Mit der Entstehung des Internets und der Möglichkeit, dass jeder etwas publizieren könne, sei auch eine „Demokratisierung der Medienkritik“ einhergegangen – meint Thomas Lückerath, Gründer und Chefredakteur des Medienmagazins „DWDL.de“, das seit 2001 über die deutsche Medienbranche berichtet.
Mehr Macher*innen für den Medienjournalismus! Interview mit Iris Ockenfels, Redaktionsleiterin beim Medienmagazin „Zapp“
Iris Ockenfels bietet einen kurzen Überblick zur Lage von Medienkritik und Medienjournalismus. Wer medienkritisch unterwegs sei, müsse wissen, was in sozialen Netzwerken gerade diskutiert wird, und dieses Wissen dann auch einordnen können. Die Zapp-Redaktionsleiterin geht schließlich noch auf den Zusammenhang zwischen Medienkritik und Medienkompetenz ein. Letztere müsse bei der Bearbeitung einzelner Themen immer mitgedacht werden.
„Wir haben einen gesetzlichen Bildungsauftrag“. Interview mit Prof. Dr. Kai Gniffke, ARD-Vorsitzender und Intendant des Südwestrundfunks
Warum ist Medienbildung Aufgabe der ARD und wie kommt sie der Aufgabe nach? Welche Angebote gibt es abseits des Programms? Und was kann die ARD bei der Vermittlung von Medienkompetenz besser machen? Diese Fragen beantwortet der ARD-Vorsitzende Prof. Dr. Kai Gniffke in diesem Interview.
[1] Hans-Dieter Kübler: Prämissen und Paradigmen von Medienkritik – Versuch einer Kategorisierung. In: Horst Niesyto und Heinz Moser (Hsrg.): Medienkritik im digitalen Zeitalter. (=Medienpädagogik interdisziplinär, Bd. 11) München 2018, S. 15-31.
[2] Das Literarische Quartett – Folge 38 vom 24.08.1995, online bei YouTube unter: https://www.youtube.com/watch?v=o-kiGdEEE3A, Zitat bei 25:40 min (abgerufen am 21.06.2023).
[3] Kübler (2018), S. 20 (s.o.).
[4] Kübler (2018), S. 20 f. (s.o.).
[5] Armin Wolf: Zwischen Propaganda und Paywall: Journalismus in der Krise. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Ausgabe 1/2019, S. 65-72. Online auf der Website der Publikation unter: https://www.blaetter.de/ausgabe/2019/januar/zwischen-propaganda-und-paywall-journalismus-in-der-krise (abgerufen am 21.06.2023).
[6] Ebd.
[7] Kübler (2018), S. 21 f. (s.o.).
[8] Kübler (2018), S. 22 (s.o.).
[9] Kübler (2018), S. 22 f. (s.o.).
[10] Kübler (2018), S. 23 ff. (s.o.).
[11] Kübler (2018), S. 23 ff. (s.o.).
[12] Siehe dazu z.B. Horst Niesyto: Medienkritik und Medienpädagogik. In: MedienPädagogik 37 (Medienpädagogik als Schlüsseldisziplin), S. 23-50. Als Download unter: https://www.medienpaed.com/issue/view/82 (abgerufen am 21.06.2023).